
Sehr geehrte Damen und Herren,
es ist für mich eine große Ehre heute bei der traditionellen Veranstaltung der Niestetaler Sport- und Kulturgemeinschaft zum Volkstrauertag 2011 sprechen zu dürfen.
Dieser Tag ist ein Tag des Innehaltens, der Einkehr und des Mitfühlens. Wir gedenken der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft.
66 Jahre sind seit Kriegsende vergangen. Der Zweite Weltkrieg aber wirft einen langen Schatten. Er ist ein ferner, doch kein abgeschlossener Teil unserer Vergangenheit.
Als Vertreter der jungen Generation kenne ich Kriegsbilder nur aus Schulbüchern, Spielfilmen und Erzählungen, zum Glück aber nicht aus eigenem Erleben.
Die Erinnerung an den Zeiten Weltkrieg und das Nazi-Regime ist in Deutschland allgegenwärtig und mitunter unmittelbar. Im Frühjahr dieses Jahres wurde uns allen in Niestetal verdeutlicht, dass auch unsere Gemeinde Kriegsort war. Der Bombenfund im Zuge des Baus der Erschließungsstraße zum Sandershäuserbergs legte für eine Zeit die nord-süd Verkehrsader A7 lahm. Und erinnerte jung und alt, wie unser Ort am 3. Oktober 1943 in Schuld und Asche gelegt wurde. Zeitzeugen, die dies noch selbst erlebt haben, sind die glaubwürdigsten Mahner gegen den Krieg und für den Frieden. Doch leider gibt es immer weniger dieser authentischen Zeitzeugen.
Umso wichtiger ist es, deren Erlebtes aufzuschreiben, zu dokumentieren und für die Nachwelt als Mahnung zu erhalten. In der Vorbereitung meiner heutigen Rede habe ich gesehen, welch wertvolle Arbeit diesbezüglich unser Geschichtsverein leistet. Wer die Berichte über den 3. Oktober 1943 in Niestetal auf der Homepage des Geschichtsvereins liest, dem läuft es kalt den Rücken runter.
Wie Grausam dieser Krieg in Niestetal war, wird auch am Mahnmal am Schwalbesberg deutlich, wo den 48 Gefallenen Flakhelfern – darunter 23 junge Schüler – gedacht wird.
Bombenfunde wie in diesem Frühling erinnern uns alle schlagartig an die Folgen des von Deutschen verursachten 2. Weltkriegs.
55 Millionen Menschen sind damals weltweit getötet worden. Unvorstellbar. Hinzu kommen Millionen Menschen, die verwundet und entsetzlich verstümmelt wurden. Allein in Deutschland wuchsen fast 2,5 Millionen Kinder als Kriegswaisen oder -halbwaisen auf. Millionen wurden vertrieben. Das sind Zahlen, vor denen unsere Vorstellungskraft versagt.
Nach Ende des zweiten Weltkriegs war allen klar: So etwas darf nie wieder geschehen. Die Antwort vieler Politiker aller Parteien war die Idee eines gemeinsamen Europas. Die europäische Einigung entsprang dem festen Willen, das Zeitalter der Kriege zu überwinden und dauerhaften Frieden auf unserem Kontinent zu sichern.
In diesen Tagen ist viel davon die Rede, dass Europa in einer schwersten Krise sei. Die Finanzkrise springt uns täglich in diversen Medien entgegen. Wir hören und lesen, die europäische Idee stünde auf dem Spiel, der Euro sei gescheitert, Europa sei gescheitert. Auch deswegen zweifeln viele Bürgerinnen und Bürger heutzutage an der europäischen Idee und an Europa selbst. Doch dafür gibt es keinen Grund. Wir dürfen nicht vergessen und müssen uns immer wieder in Erinnerung rufen, warum sich erst sechs und mittleerweile 27 Länder zu einer europäischen Gemeinschaft zusammengeschlossen haben. Welche Ziele verfolgt wurden und warum wir die Europäische Union und den Euro haben.
Beinahe hundert Jahre ist es her, als der erste Weltkrieg großes Leid und Elend über Europa und die Welt brachte und 10 Millionen Menschenleben forderte.
Vor etwas mehr als siebzig Jahren begann der zweite große Krieg in der Menschheitsgeschichte mit den bereits erwähnten 55 Mio. Kriegstoten.
Bombenangriffe, Hunger, Folter, Todesangst, Traumata, Vertreibung, Vernichtung. Das Leid, das den Menschen angetan wurde, ist für uns, die Nachkriegsgenerationen, unvorstellbar. Aber gerade deswegen, müssen wir uns immer wieder die Bedeutung und Entstehung des vereinten Europas und damit von einem friedlichen Europa ins Bewusstsein rufen.
Denn aus diesen zwei entsetzlichen Weltkriegen entstand diese Idee. Die Idee eines gemeinsamen, friedlichen Europas: In dem sich die Menschen nicht mehr bekämpfen, wie sie es Jahrhunderte davor getan hatten. Sie sollten nunmehr friedlich miteinander leben.
Wir dürfen es nicht vergessen: Wir Europäer genießen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges die längste Zeit des Friedens in der Menschheitsgeschichte! Seit über sechzig Jahren leben wir mit unseren Nachbarn in Nord, Süd, Ost und West in Frieden und Freundschaft. Unsere einstigen französischen Erbfeinde sind unsere engsten Freunde geworden. Es gibt Schulpartnerschaften, Städtepartnerschaften, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Austausch mit unseren „Nachbarn“ in Frankreich, Polen, Italien, England, Russland und bei uns in Niestetal mit Sarkad in Ungarn.
Diese einmalige Leistung verdanken wir den Frauen und Männern, die nach dem Krieg an den Frieden geglaubt haben und die Zusammenarbeit der Staaten voran gebracht haben. Diese Leistung verdanken wir letztendlich dem vereinten Europa. Keine andere Organisation, kein anderer Staatenbund hat es in der Geschichte bisher geschafft für eine so lange Zeit nachhaltig Frieden, Demokratie und Sicherheit zu schaffen und zu sichern. Dies sollten wir uns in Erinnerung rufen, wenn wieder – von welcher Seite auch immer – an der europäischen Idee gezweifelt wird.
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
heute, am Volkstrauertag gedenken wir den unzähligen getötet Kindern, Frauen und Männern jeden Alters, jeder Nation, jeder Religion und Gesinnung, die durch Krieg und Gewalt ihr Leben ließen. Wir gedenken auch den vielen Menschen, die durch die menschenverachtende nationalsozialistische Gewaltherrschaft ihr Leben verloren. Wir fühlen mit den Hinterbliebenen, den Überlebenden, den Müttern, die um ihre Söhne trauern, den Kindern, die ihre Eltern verloren, den Menschen, die ihr Hab und Gut aufgaben und flüchteten, die Trauer und Leid ertragen mussten.
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
wir wollen aber auch an die vielen tausend jungen Frauen und Männer denken, die gerade jetzt in Afghanistan, vor Somalia, im ehemaligen Jugoslawien oder im Irak sind und dort als Soldaten, Polizisten oder als Entwicklungshelfer für Frieden und Demokratie eintreten. Ihnen und ihren Angehörigen gehört unsere Solidarität. Ihre Aufgabe ist es, nicht nur für Sicherheit zu sorgen, sondern die Ideen von Freiheit, Demokratie, Menschlichkeit und Frieden in die Welt zu tragen. Denn wie der ehemalige Bundespräsident Johannes Rau gesagt hat:
„Der Einsatz von Bundeswehrsoldaten in Krisenregionen entspringt unserer Sehnsucht nach Frieden und nicht der Freude an militärischen Aktionen. Wir alle sind darauf angewiesen, dass andere ihr Leben einsetzen, damit wir alle frei und friedlich leben können.“
Zehn Jahre ist es her, dass, in Folge der brutalen terroristischen Anschläge auf die Städte New York und Washington, die Bundesrepublik den Vereinigten Staaten die „uneingeschränkte Solidarität“ erklärte. Es sollte ein kurzer, hauptsächlich humanitärer Einsatz für die Bundeswehr in Afghanistan werden. Daraus ist jedoch ein langjähriger, blutiger Konflikt geworden. Erst im letzten Jahr fand die deutsche Politik den Mut, von einem Kriegseinsatz und von gefallenen Soldaten zu sprechen.
53 deutsche Soldaten und drei Polizisten wurden seit Oktober 2001 in Afghanistan getötet.
Man kann den Einsatz in Afghanistan befürworten, man kann ihn ablehnen. Für beides gibt es gute und nachvollziehbare Gründe. Egal wie man zu dem Einsatz steht: wir alle sollten solidarisch sein mit den Soldaten, die in Afghanistan sind und solidarisch sein mit ihren Familien, Freunden und Kameraden, die Ängste und Sorgen haben, aber auch mit den Afghanen selbst.
Heute ist nicht der Tag, über das Für und Wider dieses Militäreinsatzes und seines Erfolges bzw. Misserfolges zu streiten, heute ist der Tag an dem wir gemeinsam den Toten Soldaten und Polizeibeamten gedenken und ihren Angehörigen Mitgefühl schenken wollen.
Schließlich wollen wir an die jungen Menschen aus Tunesien, Ägypten und Libyen denken, denen es gelungen ist im arabischen Frühling, Diktatoren zu stürzen und der Demokratie in ihren Ländern zum Sieg zu verhelfen. Der Frieden in Europa und die europäische Einigkeit dienen vielen Nordafrikaner aber auch Menschen weltweit als positives funktionierendes Vorbild. Unsere Pflicht ist es daher, nicht nur im Gedenken an die Millionen Toten der beiden Weltkriege, sondern auc gegenüber anderen Menschen, Völkern und Nationen, die Ideen der Demokratie und des Friedens zu bewahren, sie mit Leben zu füllen, sie aber auch zu erneuern und wenn nötig zu verteidigen. Zu verteidigen gegen die Ewiggestrigen, gegen die, die Krieg immer noch als Fortsetzung der Diplomatie mit anderen Mitteln sehen, gegen die, die die Demokratie mit Füßen treten, gegen die, für die ein Menschenleben nichts zählt.
Meine sehr geehrte Damen und Herren,
die Millionen Opfer der Kriege und der Gewalt mahnen uns. Sie mahnen uns sie und die Geschichte, unsere Geschichte nicht zu vergessen. Sie mahnen uns zum Frieden. Unsere Aufgabe ist der Erhalt des Friedens in Deutschland, in Europa und in der Welt.
Um es mit den Worten des ehem. amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy zu sagen:
„Für den Frieden gibt es keinen einfachen Schlüssel, keine großartige oder magische Formel, die sich ein oder zwei Mächte aneignen können. Der echte Frieden muss das Produkt vieler Nationen sein, die Summe vieler Maßnahmen.“
Bei uns in Europa funktioniert dies seit 60 Jahren. Viele Nationen haben gemeinsam Frieden geschaffen. Es war nicht einfach und es wird nicht einfach sein, diesen Frieden zu bewahren. Aber ich bin zuversichtlich, dass es uns gelingt, Europa gemeinsam zu stärken, die Idee eines vereinten Europas zu festigen und Europa zu einer Friedensmacht auszubauen,
das sind wir den Kriegsopfern schuldig, denen wir heute gedenken.
Danke!