Kinderarmut muss mit allen Mitteln bekämpft werden

Nachfolgend eine Stellungnahme der Bundestagsabgeordneten Ulrike Gottschalk zur HNA-Berichterstattung und Kommentierung vom 9. – 10. Juli 2010 zum Thema Kinderarmut.

Sehr geehrter Herr Hagemeier,
nachfolgend beziehe ich, auch im Namen meiner Kollegen MdB Ullrich Meßmer und den MdLs Brigitte Hofmeyer, Wolfgang Decker, Uwe Frankenberger und Timon Gremmels, zu Ihren Artikeln und Kommentierung vom 9. und 10.7.10 Stellung.

1.Kinderarmut, auch in unserer Region, muss mit allen Mittel bekämpft werden. Allerdings eignet sich die Thematik nicht für Schnellschüsse und Polemik. Kinderarmut betrifft nicht nur Kinder aus Hartz IV Familien, sondern auch Kinder aus Familien mit geringem Einkommen, s.g. Aufstockern oder kinderreichen Familien und geht damit weit in die gesellschaftlichen Schichten.

2.Die Hilfsaktion der HNA begrüßen wir ausdrücklich. Auch meine Kollegen und ich helfen individuell in Härtefällen, bekunden dies aber natürlich nicht via Pressemeldung. Gleichwohl sind diese Hilfen nur ein ‚Herumdoktern“ an Symptomen, die Thematik muss grundsätzlich angepackt werden.

3.Im Zuge der anstehenden Novellierung des Hessischen Schulgesetzes wird die SPD-Landtagsfraktion die Problematik der Schülerbeförderungskosten für Kinder aus Hartz IV-Familien und Familien mit niedrigen Einkommen thematisieren und zusammen mit den Schulträgern eine einvernehmliche Lösung anstreben. Bei der Novelle muss auch geprüft werden, ob die Beförderungskosten auf höhere Klassen ausgedehnt werden können. Des Weiteren fordern wir Land und Bund zur Finanzierung auf, weil auch dies ein zentraler Bestandteil von Bildungsgerechtigkeit ist. Das Land muss im Bundesrat und bei der Bundesregierung dafür eintreten, dass solche Leistungen anteilig vom Bund mitgetragen werden und die Hartz-Novelle im Bezug auf Kinder und Jugendliche verbessert wird. Der SPD-Grundsatz, dass der Bildungserfolg nicht vom Geldbeutel der Eltern abhängen darf, muss auch hier gelten.

4.Auch die SPD-Bundestagsfraktion ‚beackert‘ das Thema ausführlich. Einen detaillierten (leider von schwarz-gelb abgelehnten) Antrag fügen wir zu Ihrer Kenntnis bei.

5.Familienministerin Schröder muss endlich anfangen zu regieren – anstelle anzukündigen. Im Winter hatte sie versprochen im Frühjahr Gesetzentwürfe zum Kinderzuschlag und zum Unterhaltsvorschuss vorzulegen. Versprochen – gebrochen.
Auch der überraschend niedrige Haushaltsansatz 2011 zur Neugestaltung der Hartz-IV-Sätze bei Kindern lässt nichts Gutes vermuten. Finanzminister Schäuble hat für die Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts, die Hartz-IV-Sätze für Kinder an den wirklichen Bedarf anzupassen, in seinem Haushaltsentwurf 2011 lediglich eine allgemeine Vorsorge von 480 Millionen Euro jährlich getroffen. Das sind rein rechnerisch nur 23 Euro je Kind pro Monat. Diese Summe ist eindeutig zu niedrig und wird die Kinderarmut in diesem Land keineswegs lindern.
Geradezu absurd ist es langzeitarbeitslosen Eltern das Elterngeld zu streichen. Wer Familien, die am meisten darauf angewiesen sind, Leistungen streicht, kann nicht mehr glaubhaft behaupten, etwas gegen Kinderarmut zu tun. Mit den Kürzungen beim Elterngeld schafft Schwarz-Gelb Kinder zweiter Klasse und verschärft Familienarmut.
Unsere SPD-Vorstellung – Kinderarmut nachhaltig vermeiden
Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zur Bemessung der Regelsätze in der Grundsicherung muss die Politik handeln. Mit einem Antrag fordern wir eine umfassende Bekämpfung von Armut in Deutschland. Dazu gehören klare Regeln für die zukünftige Ermittlung, die Bemessung und die Festsetzung der Regelsätze. Diese Regeln sind unmittelbar im SGB II und im SGB XII zu verankern. Wir wollen einen eigenständigen Regelsatz für Kinder.

Die Bekämpfung von Armut kann allerdings nicht isoliert über staatliche Transferleistungen erfolgen. Kinderarmut ist oft die Folge von Arbeitslosigkeit und prekärer Beschäftigung der Eltern. Alle erwerbsfähigen Menschen müssen deshalb ausreichend Zugang zu Beschäftigung haben. Wir fordern neben Mindeststandards bei der Zeit- und Leiharbeit auch die Einführung von flächendeckenden Mindestlöhnen.

Grundsätzlich gilt: Das Arbeitslosengeld II muss so bemessen sein, dass es nicht nur satt macht und warm hält. Auch Arbeitslose und deren Kinder haben Anrecht auf ein würdiges Leben und die aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben. Dazu gehört mehr als Essen und Kleidung. Dazu gehört auch die Mitgliedschaft im Sportverein, von Zeit zu Zeit ein Besuch im Zoo oder eine Runde im örtlichen Schwimmbad. Ob das ALG II dafür hoch genug ist, muss künftig häufiger überprüft werden.

Bewusste Verfälschungen und Kampfreden von neoliberaler Seite, die den Sozialstaat als Ganzes diskreditieren und Betroffene diffamieren, machen eine Diskussion um die Sicherstellung bedarfsgerechter Regelsätze unumgänglich und die Klärung einer umfassenden, ganzheitlichen Strategie zur Bekämpfung von Armut notwendig. Wir brauchen eine transparente und gerechte Förderung gegen Kinderarmut. Dafür kämpfen wir gemeinsam mit einem Bündnis aus Verbänden und Wissenschaftlern (www.kinderarmut-hat-folgen.de). Durch die Anrechnung von Kindergeld auf das Sozialgeld bei Hartz IV erhalten die ärmsten Kinder faktisch kein Kindergeld. Zugleich bekommen gut verdienende Familien mit dem Kinderfreibetrag rund 100 Euro mehr pro Kind und Monat als die breite Masse der Kindergeldbezieher. Gerecht geht anders!

Kinderarmut spiegelt sich oft auch in dem besorgniserregenden Zusammenhang zwischen Bildung und sozialer Herkunft wider. Deshalb ist ein Ausbau der Bildungsinfrastruktur neben einer besseren materiellen Teilhabe die Voraussetzung für mehr Chancengleichheit. Bund, Länder und Kommunen müssen ein gebührenfreies und qualitativ gutes Bildungswesen schaffen. Hierzu gehören neben dem qualitativen und quantitativen Ausbau der Kinderbetreuung einfach zugängliche Familienbildung und -beratung. Auf keinen Fall darf es zu einem Scheingefecht zwischen einer besseren Bildungsinfrastruktur und materieller Teilhabe kommen. Kinder und deren Familien brauchen Geld und Bildung gleichermaßen.

Das Bundesverfassungsgericht hat die willkürliche Festlegung der Regelleistungen in den Verordnungen gekippt. Der Gesetzgeber, so heißt es, sei von seiner selbst gesetzten Strukturprinzipien bei der Berechnung des Existenzminimums abgewichen. Beispielsweise gesteht die Verordnung den ALG-II Empfängern nur 26 Prozent der Summe zu, welche die untersten 20 Prozent der Einkommensbezieher für Mobilität ausgeben. Unberücksichtigt bei der Berechnung bleiben, wie das Gericht deutlich kritisiert, zudem die Bereiche Bildung und Unterricht außerhalb der Schule in Sport und Musik. In diesem Zusammenhang stellten die Richter fest, dass ein menschenwürdiges Existenzminimum „auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben umfasst“. Die Ermittlung des Regelsatzes für Kinder unter 14 Jahren, denen nur 40 Prozent des Erwachsenenregelsatzes zugebilligt wird, bewertete Karlsruhe als eine willkürliche Festsetzung ohne empirische Grundlage. Bei Kindern handele es sich nicht um kleine Erwachsene, so das Urteil. Darüber hinaus erwartet das Gericht konkret einen zusätzlichen Bedarf bei den Ausgaben für Schulmaterial. Ohne die Deckung dieses Bedarfs drohe der Ausschluss von Lebenschancen, da sie die Schule sonst nicht erfolgreich besuchen könnten. Eine Fortschreibung der Regelsätze für Kinder auf dem gleichen Niveau wurde damit sehr erschwert bzw. ausgeschlossen. Der Gesetzgeber muss künftig einen eigenständigen Kinderbedarf ermitteln, statt ihn pauschal von dem Bedarf Erwachsener abzuleiten.

Die SPD fordert Familienministerin Schroeder daher auf, umgehend ein Sofortmaßnahmenpaket gegen Kinderarmut aufzulegen. Wir erwarten rasche Gesetzesinitiativen, um den Kinderzuschlag auszuweiten und den Unterhaltsvorschuss für Alleinerziehende zu verbessern. Außerdem muss die Bundesregierung auf die Kürzungen beim Elterngeld verzichten. Der Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung muss abgesichert und auf Ganztagsbetreuung ausgeweitet werden. Die Familienministerin muss sich endlich um die Kinder und Familien in Deutschland kümmern. Regieren ist gefragt, erklären reicht nicht mehr.